Die kleine Stadt und ihr großes Schloß – ein Märchen für Erwachsene

Die kleine Stadt und ihr großes Schloß – ein Märchen für Erwachsene 1)

 

Es war einmal eine kleine, liebenswerte Stadt vor einem großen Wald. Ihre Einwohner lebten seit alten Zei­ten friedlich zusammen, gingen mit Fleiß ihrer Arbeit nach und waren glücklich und zufrieden. Jeder kannte jeden, und im Jahreslauf feierten sie gemeinsam manches Fest, empfingen Besuch und machten selbst auch anderwärts Besuche. Nicht wenigen ging es so gut, daß sie sogar ferne Länder bereisten und den Daheimge­bliebenen von diesen erzählten. Aber immer wieder waren sie auch froh, wenn sie wieder in die Vertrautheit ihrer kleinen Stadt zurückkehren und den Lärm und die Fremdheit der weiten Welt hinter sich lassen konn­ten.

 

Eines Tages drang die Kunde von dieser kleinen Stadt zu einem reichen Schloßherrn. Es wurde berichtet, daß es sich in dieser Stadt vor dem großen Wald inmitten grüner Wiesen und fruchtbarer Bäume gut lebte. Der reiche Schloßherr kam alsbald zu Besuch, um sich die kleine Stadt einmal näher anzuschauen, und er fand die Berichte über die Vorzüge der kleinen Stadt und die sie umgebende Landschaft bestätigt. Er stellte sich vor, wie es sein würde, in dieser schönen Gegend und vor den Toren dieser kleinen Stadt zu wohnen. Vor seinem geistigen Auge entstand ein stattliches Schloß mit adretten Türmen, deren Dächer golden glänzten. In der folgenden Zeit freundete sich der Schloßherr so sehr mit diesem Gedanken an, daß er schließlich sei­ne Baumeister rief und sie mit der Planung eines neuen Schlosses betraute.

 

 

Es dauerte nicht lange, bis etwas von den Plänen des reichen Schloßherrn in die kleine Stadt durchsickerte. Viele Einwohner mochten nicht glauben, daß der Schloßherr ihre Stadt für wert erachten würde, vor ihren Toren seinen Wohnsitz zu nehmen. Einige erblickten schon das glitzernde Schloß, das über ihrer Stadt thro­nen und diese gleichsam veredeln würde. Mancheiner aber empfand bei dieser Vorstellung etwas Bedrohli­ches: Würde ein so großes und pompöses Gebäude zum Anblick der kleinen Stadt passen? Würden die neu­en Einwohner, die im Schloß wohnen würden, die kleine Stadt nicht ihrer gewohnten Vertrautheit und Be­schaulichkeit berauben?

 

Der Schultheiß und der Rat der kleinen Stadt waren indessen sehr angetan von den Plänen des Schloßherrn, sahen sie doch in ihnen die Gewähr für reichlich gefüllte Kassen. Überdies würde die Bedeutung ihrer Stadt zunehmen, ihr Ansehen im ganzen Land sichtbar steigen. Ein bißchen schienen die Ratsherren sich auch im Glanz der Aura des berühmten Schloßherrn zu sonnen. Eine zunehmende Zahl von Einwohnern aber wandte sich gegen die Pläne des Schloßherrn. Sie zogen es vor, die für die Errichtung des Schlosses benötigten Bäu­me und Wiesen für die Nachkommen zu bewahren. So geriet die Einwohnerschaft in einen erbitterten Streit. Die kleine Stadt wurde gespalten in Gegner und Befürworter des Schloßbaus. Die Spaltung ging so weit, daß Freundschaften zerbrachen und der Zwist sogar in den Familien Einzug hielt.

 

Um die Zweifler zu beruhigen, gaben Schultheiß und Ratsherren bekannt, es sei ja noch nichts entschieden, Bedenken könnten später vorgebracht werden. Die Bürger sollten dem Rat ruhig vertrauen. Indessen schlu­gen die Schloßgegner vor, die Bürgerschaft über den Schloßbau abstimmen zu lassen. Würde sich die Mehr­heit für das Schloß entscheiden, sollte dieses vor der Stadt errichtet werden, andernfalls sollte sich der Schloßherr einen anderen Bauplatz suchen. Dies konnte auch dem Schloßherrn gefallen, hatte er sich doch verpflichtet, sich nur dann in der Stadt niederzulassen, wenn er dort willkommen sei. Auf diese Weise wäre auch dem Ortsfrieden gedient, und die Einwohner der Stadt könnten wieder, wie ehedem, friedlich zusam­menleben.

 

Anstatt sich diesem klugen Vorschlag anzuschließen, verkaufte der Rat insgeheim den in Aussicht genomme­nen Bauplatz an den Schloßherrn. Es stellte sich heraus, daß alle vorbereitenden Absprachen und Planungen hinter dem Rücken der Bürger bereits getroffen worden waren. Der Schloßherr schickte seine Bauleute, die unter dem Protest vieler Einwohner rasch Bäume fällten und Gräben aushoben. Und so nahm der Bau des Schlosses seinen Anfang. Es entstand ein ausgedehnter Bau, der sich fast drohend über dem vor der Stadt liegenden Hügel erhob und nichts von dem hatte, was sich die Schloßfreunde erträumt hatten: Düster und grau, einer Festung ähnlicher als einem Prunkbau. Anstelle der erhofften, golden glänzenden Türme wuch­sen Schornsteine aus dem Boden, die nichts Gutes verhießen. Alle Proteste und Einsprüche kamen zu spät oder verhallten ungehört. Da fühlte sich sogar mancher Schloßfreund betrogen.

 

Und so kam die kleine Stadt schließlich zu „ihrem“ Schloß, das ihr zu zweifelhaftem Ruhm verhalf und ihr keineswegs zur Zierde wurde. Viele Bürger sahen sich von ihrem Rat betrogen und vom Schloßherrn hinters Licht geführt. Dem Frieden in der Stadt aber war ein Bärendienst erwiesen worden. Am Ende mißfiel dem Schloßherrn der entstandene Bau so sehr, daß er darauf verzichtete, vor der kleinen Stadt seinen Wohnsitz zu nehmen. Der Schultheiß nahm sich daran ein beredtes Beispiel und behielt seine Wohnung in sicherem Abstand von seinem Amtssitz. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben die schloßtrunkenen Ratsherren – wohl gar über ihre Amtszeit hinaus – bis heute in der trügerischen Hoffnung, daß Verantwortung allmählich aus dem Gedächtnis all der betrogenen Mitbürger und deren Nachfahren verlöschen wird.

 

                                                          

                                                                                                   – Serenus –

            



1)   Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Gemeinwesen wären rein zufällig und sind in keiner Weise beabsichtigt.